Zum Bleiben ermächtigt – Ein architektonischer Führer durch das islamische Erbe Andalusiens
von Kerstin Sailer
veröffentlicht im Magazin Zenith – Zeitschrift für den Orient, Ausgabe 2/2002
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Sommerliche Temperaturen in Sevilla. Eine ganz gewöhnliche Stadt mit Mittelmeerklima? Eine ganz gewöhnliche südeuropäische Stadt mit dichter Struktur, altem Stadtzentrum, einem Fluss mitten durch die Stadt, wie in so vielen bedeutenden Städten, mit der für Spanien obligatorischen Stierkampfarena, mit Flamenco-Bars und Touristen? Auch, aber nicht nur. Die Reste und Überbleibsel der islamischen Epoche locken. Die Relikte maurischer Architektur machen Sevilla zu etwas Besonderem.
Hier findet man den berühmten Mudejarstil, der islamische Elemente mit spätgotischen, christlichen verschmolz. Der Name „Mudejar“ kommt vom arabischen „mudaiyan“ und bedeutet „zum Bleiben ermächtigt“. Gemeint sind jene islamischen Baumeister, die nach der Reconquista in Sevilla blieben und für christliche Bauherren tätig wurden. Ihr wahrscheinlich bekanntestes Zeugnis sind die herrschaftlichen Palastanlagen „Alcázares Reales“ (vom Arabischen al-qasr: Burg, Palast) in Sevilla. Sie wurden 1364 vom christlichen König Pedro I. in Auftrag gegeben. Obwohl die Reconquista bereits ein Jahrhundert zuvor Sevilla überrollt hatte, errichteten maurische Handwerker und Baumeister den Palast. Dies dokumentiert die weiter bestehende Überlegenheit der maurischen Kultur. Einer Erzählung zufolge sollen die Baumeister über dem Hauptportal heimlich eine Inschrift mit arabischen Kalligraphie-Schriftzeichen eingefügt haben, die „den Sieg und die Macht Gottes“ verkündet. Der Originalzustand des Palastes aus dem 14. Jahrhundert ist nicht mehr vollständig zu sehen. Vor allem die Gärten wurden mehrfach umgebaut und mit Renaissance- und Barockelementen überformt, was im System der feingliedrigen maurischen Architektursprache oftmals deplatziert und brachial wirkt. Dazu sind die Patios, die Höfe, die als Herzstücke islamischer Architektur gelten, heute ohne Bepflanzung. Ihr ursprünglicher Reiz lässt sich nur erahnen.
Von duftenden Orangenbäumen gesäumte Straßen führen durch das nahe Barrio Santa Cruz, den ältesten und verwinkelsten Stadtteil Sevillas, über den sich die Giralda erhebt. Der Turm der heutigen Kathedrale ist Wahrzeichen und Stadtmittelpunkt zugleich – und war ursprünglich das Minarett der Hauptmoschee. Das obere Drittel des Turms wurde im 16. Jahrhundert als Glockenstuhl und Spitze aufgesetzt. Im unteren Teil dagegen sind sowohl der Dekor als auch die Bogengestaltung der Fenster als Vielpassbögen und Hufeisenbögen bis heute erkennbar typisch islamisch. Doch mit Ausnahme der Giralda und des Orangenhofs, der den Muslimen für die rituellen Waschungen diente, sind keine weiteren Anzeichen der almohadischen Moschee aus dem 12. Jahrhundert erhalten.
Sevilla erlebte seine Blütezeit erst spät, unter der Dynastie der Almohaden ab der Mitte des 12. Jahrhunderts. Zuvor stand es immer im Schatten Córdobas, das damals eine Weltstadt wie Bagdad und Konstantinopel war. Berühmt und bekannt ist Córdoba vor allem für seine ausgeprägte Patio-Stadtstruktur und die „Große Moschee“, die Mezquíta Mayor im alten Judenviertel der Stadt am Ufer des Flusses Guadalquivir (Arabisch al-wadi al-kabir: das große Flusstal). Anders als in Sevilla wurde hier nach der Reconquista nicht die komplette Moschee abgerissen und ersetzt. Doch im 16. Jahrhundert setzten die neuen Herrscher eine Kirche mitten in den offenen Betsaal, das Minarett wurde zum Glockenturm. Obwohl die christliche Kirche nur einen Teil des Innenraums der Moschee einnimmt, stört sie den grandiosen Raumeindruck. Selbst Kaiser Karl V. kritisierte den Umbau mit den Worten: „Hätte ich gewusst, was ihr vorhabt, wärt ihr nicht dazu gekommen, es auszuführen. Das, was ihr hier hinstellt, bekommt man an jeder Straßenecke zu sehen, aber das, was hier einmal war, hat es auf der ganzen Welt nur einmal gegeben.“ In der Tat war die Moschee von Córdoba nach sieben Phasen muslimischer Erweiterungen die drittgrößte Moschee der Welt.
Von 785 bis 786 unter Abd al-Rahman I. in nur einem Jahr Bauzeit erstellt, maß sie zunächst 74 auf 37 Meter. Den offenen Innenraum strukturieren Säulen, elf langgezogene Schiffe nebeneinander, die durch jeweils 13 Säulen in einer Reihe getragen werden: es ergeben sich zwölf Joche. Hufeisenbögen mit abwechselnd weißen und roten Ziegeln in einem Doppelarkadensystem erheben sich über den Säulen als prägende Gestalt.
Gestalterisches Vorbild war unter anderem die Al-Aqsa Moschee in Jerusalem. Das Element jener Bögen wurde auch in allen folgenden sechs Transformationsphasen beibehalten. Unter wechselnden Herrschern wuchs die Moschee schließlich auf die Endgröße von 19 Schiffen und 32 Jochen und 130 mal 180 Meter an. Über 600 Säulen lassen das Bild eines Waldes aus Marmor entstehen. Zweimal wurde die Moschee nach strengen mathematisch-geometrischen Überlegungen mit dem Faktor der Wurzel aus 2 beziehungsweise 3 proportional vergrößert. Bei einer weiteren bedeutenden Vergrößerung konnte dieses Prinzip nicht mehr aufrechterhalten werden, da man sonst dem Guadalquivir zu nahe gekommen wäre. Aus Platzgründen wurde bei der letzten entscheidenden Erweiterung auch das wichtige Bauprinzip der Symmetrie verworfen.
Die Bedeutung und die Pracht des damaligen Córdoba spiegeln sich eindrucksvoll in der 5,5 Kilometer nordwestlich von Córdoba in der Sierra Morena liegenden Palaststadt Madinat al-Zahra wieder. Es war das erste größere Bauvorhaben, nachdem Emir Abd al-Rahman III. im Jahre 929 Kalif geworden war. Die Bauarbeiten an der Madinat al-Zahra, benannt nach der Lieblingsfrau des Kalifen, dauerten 40 Jahre. Der Bau verschlang ein Drittel der Staatseinnahmen, 10.000 Arbeiter produzierten täglich 6.000 Steinblöcke. 12.000 Eunuchen sollen 6.000 Frauen in diesem „Märchenschloss der Liebe“ bewacht haben.
Nachdem zuvor alle Anlagen im Flusstal errichtet worden waren, entstand Madinat al-Zahra auf drei Terrassen am Hang. Den Palastbewohnern bot sich ein fantastischer Blick ins weite Land, zudem war eine gewisse Distanz zwischen Herrscher und Volk hergestellt: Madinat al-Zahra war eine autonome Königsstadt, die lediglich die Herrscherfamilie und die Verwaltung beherbergte. Die weitläufigen Gärten, nach streng geometrischem Schema angelegt, sind mit Brunnen und Pavillons geschmückt, von sich kreuzenden Wegen durchzogen und von dekorativen Kanälen bewässert. Nicht zuletzt ist hier der älteste erhaltene viergeteilte Gartengrundriss Spaniens – der Archetypus des islamischen Gartens – zu finden.
Der Bau der Madinat markiert den Beginn der spanisch-islamischen Herrschaftsarchitektur und liefert den Schlüssel zur gesamten späteren Palast- und Gartenarchitektur in Spanien, Marokko und Algerien. Höhepunkt und Ende der Herrschaftsarchitektur in Andalusien war der Bau der legendären Alhambra in Granada. Die „Rote“ (Arabisch al-hamra) entstand ab 1354 unter nasridischer Herrschaft. Nach dem Fall Córdobas 1236 und Sevillas 1248 war Granada weitgehend isoliert, ein kleines eingekreistes Sultanat inmitten zurückeroberter christlicher Herrschaftsgebiete. Viele Moslems waren dorthin geflohen, und so konnte Granada trotz des bereits beginnenden politisch-militärischen Zerfalls einen kulturellen Schatz wie die Alhambra hervorbringen.
Der Festungskomplex besteht aus drei Teilen: der Burg, dem Palast sowie dem Garten und Sommersitz Generalife (Arabisch dschannat al-arif). Während dort Wasser als zentrales Gestaltungsthema dominiert, wie in vielen islamischen Gärten, thematisiert der Palast selbst eher die Kombination von Gebäuden und Wasser. Oftmals wird die Alhambra als ein Ort der Sinne beschrieben – eindrucksvoll durch die Wasserbecken und Gebäude, die sich wie aufgefädelte Perlen an einer Kette arrangieren, durch den Gegensatz und das Verfließen von innen und außen, durch die Überraschungsmomente und Perspektiven, durch sinnliche Erfahrungen, wie das Geräusch des Wasserplätscherns oder der Geruch von Orangenblüten.
Berühmt an der Alhambra sind der Myrtenhof und der Löwenhof. Der Myrtenhof ist mit einem großem Wasserbecken längs akzentuiert. Er zeigt besonders gut die charakteristische Schlichtheit der Komposition, ein Zusammenspiel von reichhaltiger, feiner und bedeutungsvoller Architektur mit den einfachen Myrten und der Wasserspiegelung. Er strahlt eine Atmosphäre von Ernsthaftigkeit und stiller Erhabenheit aus. Im Myrtenhof wurden offizielle Gäste empfangen, der Hof war ein öffentlicher Raum, ein Ort des Lichtes und durch die klare Geometrie maskulin geprägt. Dennoch ist er mit Myrten bepflanzt, die für die Araber ein Symbol für die körperliche Liebe waren, da sich ihr Duft erst beim Reiben entfaltet. Der Löwenhof dagegen ist gekennzeichnet durch eine intime Atmosphäre: der süßliche Orangenduft, das murmelnde Wasserspiel, die Inspiration durch Symbolisierung der Allmacht Gottes. Er ist der Ort der Privatheit und Zurückgezogenheit, der Abgeschiedenheit und des kleinen Kreises Vertrauter, ein Ort des Spiels mit dem Reiz des Schattens und der femininen, filigranen Wirkung. Er ist umrahmt von Kolonnaden, die einem Wald aus Säulen gleichen. Durch diese Arkaden und die vielschichtigen Säulengänge wird der Raumwirkung eine dritte Dimension hinzugefügt.
Ein zwölfeckiger Brunnen, gestützt von zwölf Löwen, beherrscht die Platzmitte. Vier Wasserläufe, die innerhalb der Gebäude beginnen, fließen kreuzförmig auf den Brunnen zu. Sie symbolisieren die vier Ströme, die laut Koran im Paradies fließen: Wasser, Milch, Honig und Wein. Die wasserspeienden Löwen sind fast grobschlächtig gearbeitet, was auf das Bilderverbot des Islam zurückzuführen ist. Im Originalzustand waren die vier Hofflächen mit Orangenbäumen bepflanzt und rund 80 Zentimeter abgesenkt, damit Architektur und Vegetation nicht konkurrieren.
Mit dem Fall der Alhambra 1492 endet eine große Ära der Kunst und Kultur in Andalusien. Mit der Weiternutzung durch christliche Herrscher gehen einige Veränderungen und Überformungen einher, unter anderem Neubauten, wie der Renaissance-Palast Karls V., dem der Harem der Alhambra weichen musste oder die Ersetzung der feinen islamischen Gartenkunst im Generalife durch aufdringliche Renaissance-Schmuckelemente.
Doch Granada beherbergt noch weitere Schätze islamischer Architektur. Neben der Moschee lassen sich vor allem das rechtwinklige System des Basars und das Gebäude der Karawanserei, auf das der Hauptweg des Basars zuläuft, erkennen.
Al-Andalus hat viele Gesichter – sicher mehr als das Städte-Dreigestirn Sevilla – Córdoba – Granada. Das maurische Erbe ist allgegenwärtig, und die Andalusier sind heute stolz auf ihre Vergangenheit. Die Spuren des Islam liegen manchmal sehr nah an der Oberfläche, manchmal sind sie tief vergraben. Vielleicht können die Zeiten, in denen unter muslimischer Herrschaft die Toleranz und die Zivilisation blühten, als Vorbild dienen, heute, da die Südspitze der Iberischen Halbinsel erneut zum Invasionspunkt wird – für strandende Nordafrikaner auf dem gefahrenvollen Weg in ein besseres Leben in der EU.
Andalusien stand, einzigartig im westeuropäischen Kulturraum, über 700 Jahre unter islamischer Herrschaft. 711 setzten die Berber und Araber auf ihren Eroberungszügen nach Gibraltar (Arabisch Dschabal al-Tariq, der Berg des Eroberers Tariq) über. Sie drängten die Westgoten zurück und eroberten binnen kürzester Zeit die Iberische Halbinsel bis über die Pyrenäen hinweg. Von den spanischsprachigen Bewohnern wurden die neuen Herrscher unterschiedslos „los moros“ Mauren („die Schwarzen“) genannt. Im elften Jahrhundert begann die allmähliche Rückdrängung der islamischen Fürsten durch christliche Herrscher, Reconquista genannt. 1492 fiel die letzte islamische Enklave, das Emirat von Granada, dem spanischen Herrscherpaar Isabella von Kastillien-Léon und Ferdinand von Aragon in die Hände. Dennoch ist Andalusien bis heute stark von der islamischen Herrschaft geprägt. Während sich das restliche Europa im tiefsten Mittelalter befand, erlebte Andalusien unter dem Islam eine Blütezeit in Handel, Wissenschaft, Kultur und Architektur. Córdoba hatte als Hauptstadt des Omajaden-Emirats bereits im 10. Jahrhundert eine halbe Million Einwohner und war damit die größte und bedeutendste Stadt des gesamten Mittelmeerraumes. Sie besaß über 300 Moscheen, 300 öffentliche Bäder, 50 Hospitäler, 80 öffentliche Schulen und 17 Hochschulen.