Grenzerfahrungen in Indien

von Kerstin Sailer


So weit hatte uns unsere Blauäugigkeit also gebracht – ins Stadtzentrum von Varanasi, nach Sonnenuntergang und noch ohne Unterkunft. Eigentlich hatten wir uns das ja als Urlaubsphilosophie angeeignet: nur nicht hetzen und um Himmels willen nicht planen. Und schließlich ist das auch in den letzten vier Wochen aufgegangen, zwar nie sofort und ohne weiteres, aber Indien ist nun mal außergewöhnlich.

Auch dieses Mal hatten wir unsere Reise so angefangen. Allerdings lag die erste Irrfahrt mit dem ersten Rikscha-Fahrer bereits hinter uns, der uns am Stadtrand von Varanasi aufgegabelt hatte, genau dort, wo der lokale Überlandbus uns als einzige TouristInnen ausgespuckt hatte. Wieder eine der Lebensweisheiten: nur keinem Schlepper und keinem Rikscha-Fahrer trauen und immer wieder fallen wir doch drauf rein und kämpfen uns schließlich verärgert zu Fuß und ohne fremde Hilfe über Stock und Stein. Wenigstens auf Quartiersuche können wir uns nun in den engen Gassen der Altstadt – unbehelligt von Rikschas – alleine begeben, so dachten wir.

Die Ruhe währte nicht lange.

Kleine indische Jungs lungerten auf den nächtlichen Straßen rum, nach dummen TouristInnen suchend, die man leicht in Hotels führen kann, um dann Provision von den Hotelbesitzern zugesteckt zu kriegen. Gesucht – gefunden, schnell und treffsicher.

Gleichzeitig wuchs unsere innere Unruhe stetig, denn wir tappten im Dunkeln. Unser guter alter Lonely Planet Reiseführer glänzte durch eine gänzlich unbrauchbare Karte. Die engen Gassen waren großteils unbeleuchtet. Wirklich eng und wirklich dunkel. So breit wie der Hintern einer heiligen Hindu-Kuh, die ab und an in den Gassen abhingen, so eng, daß wir mit zwei vollbepackten Rucksäcken nicht nebeneinander laufen konnten. Den Reiseführer wälzend, die Jungs zunächst ignorierend, dann abweisend, schließlich anpöbelnd, daß sie abhauen sollen, weil wir ihre Hilfe nicht bräuchten, zogen wir von einem vollen Gasthaus zum anderen. Erfolglos. Die Uhr rannte und wir rannten bestimmt im Kreis in dem verwirrenden Gassenlabyrinth. Wir kamen uns langsam vor wie Maria und Josef auf Quartierssuche, okay, ich war nicht hochschwanger, aber mein Rucksack wog auch genug. Sollten wir am Ende etwa in einem Stall schlafen – gemeinsam mit heiligen Kühen?!?! Es muß etwa der 37. Gasthaus-Besitzer gewesen sein, der uns mitleidig seine Hilfe anbot. Er riet uns bei einem Drink und einem Sitzplatz in seiner Vorhalle wir sollten uns doch trennen. Einer sucht, einer bleibt mit dem Gepäck bei ihm. Da mein Freund kaum noch ansprechbar war, geschwächt von Amöbenruhr und ich meistens doch die etwas besseren Nerven hatte, musste ich also als starke Frau raus, während er wartete. Ich schnappte den nutzlosen Reiseführer, die Visitenkarte des Hotels, in dem nun also mein Freund saß und los.

Ich und mein Orientierungssinn, das ist ein langes, trauriges Kapitel. Ich wusste weder, welche Himmelsrichtung wo war, noch wo der Ganges lag, der nah sein musste. Eigentlich war ich völlig am Ende. Keine Ahnung, keine Orientierung, keinen Durchblick, keinen Plan. Eigentlich hätte ich es verdient gehabt, in einem Kuhstall oder auf der Straße zu nächtigen, hätte es verdient gehabt, dass mir niemand hilft und doch warteten sie vor der Türe. Die kleinen Jungs, die uns vorher noch so genervt hatten und die wir (auf Deutsch versteht sich) noch wüst beschimpft hatten, führten mich nun flugs und behende über das holprige Pflaster, durch Gassen und Schleichwege, beinahe durch Mauerritzen, über Privathöfe in einer unglaublichen Tour durch wahrscheinlich fast alle Gasthäuser des kompletten Viertels.

Zuletzt wurden wir fündig – eine Räuberhöhle ohne Fenster und zu den Koch-, Wohn und Fernsehräumen der Besitzerfamilie des Gasthauses nur durch Vorhänge abgetrennt. Aber zwei Betten und so etwas wie ein Zimmer. Und noch frei, im Gegensatz zum Rest von Varanasi. Mir war alles egal, ich war überglücklich, dass es nun doch eine Unterkunft war, in der wir unsere erste Nacht hier verbringen würden. Noch glücklicher war ich über die Hartnäckigkeit und Hilfsbereitschaft der Jungs, die mich innerhalb von Minuten auch wieder auf atemberaubenden Wege zu meinem Freund und Gepäck und auch ein weiteres Mal bis zu unserer Unterkunft zurückbrachten. Und dieses Mal war uns unsere Blauäugigkeit auch ehrlich und gerne einen guten Betrag Bakschisch wert.


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